Das unsterbliche Vermächtnis der Henrietta Lacks
- katrinflatscher
- 1. Aug. 2024
- 11 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Aug. 2024

Henrietta Lacks (AI-Bild erstellt mit Canva Magic Media)
Zellkultur war immer schon eine meiner Lieblingstätigkeiten im Labor. Mit lebenden Zellen in vitro (also in mit Nährflüssigkeit gefüllten Kulturgefäßen) zu arbeiten, ist in meinen Augen eine der spannendsten und faszinierendsten Sparten der biologischen Forschung. Man kann untersuchen, wie sich ein Wirkstoff, eine Behandlung oder eine genetische Modifikation auf die Funktionen der Zellen auswirkt. Man kann Krebszellen mit verschiedenen Substanzen behandeln, um herauszufinden, welche sie am besten abzutöten vermag. Mit den modernsten Methoden der 3D-Zellkultur kann man sogar ganze Gefäße und Mikroorganellen in vitro nachbilden, um sie zu studieren.
Zellkulturarbeit erfordert Konzentration, Sorgfalt und sehr viel Fingerspitzengefühl. Im Laufe der Zeit baut man fast schon ein Naheverhältnis zu seinen mikroskopisch kleinen Schützlingen auf. Man überprüft ihr Aussehen, ihre Form und ihre Wachstumsdynamik mehrmals täglich unter dem Mikroskop, checkt Farbton und Trübung des Nährmediums und hält Ausschau nach gefürchteten Anzeichen von Verunreinigungen (häufig schwimmende Inseln aus Schimmelpilzen, schlimmstenfalls nahezu unsichtbare Mykoplasmen), die man selbst beim vorbildlichsten sterilen Arbeiten manchmal nicht vermeiden kann. Und auch abgesehen von Kontaminationen kann einiges schief gehen, das dazu führt, dass sich die Zellen trotz penibler Pflege einfach nicht mehr weiter teilen - oder sogar gänzlich absterben. Das liegt daran, dass Zellen außerhalb des Körpers nun mal nicht in ihrer natürlichen Umgebung sind. Und auch wenn man noch so sehr versucht, diese mit Kulturflüssigkeiten, Substraten, Nährstoffen, Wachstumsfaktoren, Temperatur, Luftfeuchtigkeit und Gaszufuhr nachzubilden, ist in vitro nun mal nicht das Gleiche wie in vivo.
Lange Zeit war es ein Ding der Unmöglichkeit, Zellen außerhalb des Körpers dauerhaft wachsen zu lassen und zu vermehren. Zellbiologische Analysen konnten nur mit sogenannten Primärzellen durchgeführt werden, die direkt aus dem Blut oder Gewebe von Testpersonen gewonnen werden mussten. Einheitliches Probenmaterial war dadurch stets nur begrenzt verfügbar, was die medizinische Forschung und Entwicklung natürlich enorm einschränkte.
Erst vor rund 70 Jahren gelang es Forschern schließlich, eine Zelllinie zu isolieren, die sich unbegrenzt in Kultur vermehren ließ und somit quasi „unsterblich“ war. Seitdem sind Zelllinien unschätzbare Werkzeuge der Biowissenschaft geworden. Ob in der Krebsforschung, der Impfstoffentwicklung oder im noch jungen, aber potenziell zukunftsweisenden Bereich des Gene Editing – aus der medizinischen Forschung sind sie heute nicht mehr wegzudenken.
Die American Culture Type Collection (ATCC), die weltweit größte Referenzsammlung für biologische Materialien, führt über 4000 stabile, immortalisierte (also "unsterblich gemachte") Zelllinien aus verschiedenen Organismen. Darunter finden sich zum Beispiel CHO-Zellen aus Hamster-Ovarien, HEK293-Zellen aus humanem embryonalen Nierenepithelgewebe oder VERO-Zellen aus Nierenzellen von Grünen Meerkatzen (die übrigens besonders häufig in der Covid-Forschung verwendet wurden). Und man findet dort auch die Zellen, mit denen vor rund 70 Jahren alles begann.
In der Produktbeschreibung steht:
Organismus: Homo sapiens, human
Gewebe: Uterus; Zervix
Krankheit: Adenokarzinom
Preis: 595 Euro
Es handelt sich um die allererste unsterbliche Zelllinie der Welt. Sie trägt die unscheinbare Bezeichnung "HeLa" - das Kürzel der Person, aus der sie ursprünglich stammt: eine junge, afroamerikanische Frau namens Henrietta Lacks.
Henrietta Lacks und ihre HeLa-Zellen (kombiniert aus "Henrietta Lacks" von Oregon State University (CC BY-SA 2.0, Creative Commons) und "HELA-Zellen" von Fraunhofer-Institut für Biomedizinische Technik, St. Ingbert, Paul Anastasiadis, Eike Weiß, (CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)
Henrietta Lacks wird am 1. August 1920 als neuntes Kind von Eliza und John Randall Pleasant im US-Bundesstaat Virginia geboren. Ihr Geburtsname ist eigentlich Loretta, aber ihre Eltern ändern ihn irgendwann in Henrietta und rufen das Töchterchen meist „Hennie“. Nur vier Jahre später stirbt Henriettas Mutter bei der Geburt des zehnten Kindes. Ihr Vater ist alleine nicht in der Lage, neben der Arbeit auch die Erziehung zu übernehmen, und entschließt sich, die Kinder in die Obhut seiner Verwandten zu geben. Henrietta lebt fortan im kleinen Städtchen Clover im ländlichen Teil Virginias bei ihrem Großvater Tommy Lacks, dem unehelichen Sohn eines weißen Plantagenbesitzers und einer seiner schwarzen Sklavinnen, und dessen Frau Chloe.
Obwohl sie in einfachen Verhältnissen aufwächst und die Herausforderungen der Rassentrennung die Zeit prägen, durchlebt Henrietta dort eine glückliche Kindheit. Zusammen mit ihrem Cousin David, der von allen nur „Day“ genannt wird, wächst sie bei den Großeltern gut versorgt auf und besucht die örtliche Schule. Sie hilft auf der Tabakplantage, versorgt die Kühe, Hühner und Schweine auf der Farm und spielt in ihrer Freizeit auf den Feldern.
Mit der Zeit kommen sich Henrietta und Day trotz ihrer Verwandtschaft näher, und mit nur 14 Jahren wird Henrietta zum ersten Mal schwanger. Dem Sohn Laurence, der 1935 zur Welt kommt, folgt vier Jahre später Tochter Elsie, die mit geistigen Einschränkungen und Epilepsie geboren wird. Im Frühling 1941 heiraten Henrietta und Day schließlich, und als dieser bald darauf ein Angebot für einen besser bezahlten Job in der aufstrebenden Stahlindustrie bekommt, zieht die Familie nach Turner Station, eine Industriestadt in der Nähe von Baltimore. Dort bekommen sie zwischen 1947 und 1950 noch drei weitere Kinder: David Jr., Deborah und Joseph.
Bereits vor der Schwangerschaft mit Joseph bemerkt Henrietta, dass irgendetwas mit ihr nicht in Ordnung ist. Sie beschreibt es als einen Knoten im Unterleib, außerdem habe sie immer wieder seltsame Blutungen abseits ihrer Periode, erzählt sie ihren Cousinen. Als die Beschwerden auch nach Josephs Geburt nicht nachlassen, sucht sie im Januar 1951 das Johns Hopkins Hospital auf – eines der wenigen Krankenhäuser, das auch Schwarze behandelt. Der dortige Gynäkologe, Howard Jones, macht eine Biopsie von Henriettas Gebärmutterhals, und als die Ergebnisse der Gewebeanalyse wenige Tage später vorliegen, steht fest: Sie leidet an einem Zervixkarzinom.
Dazu muss man wissen: Der heute übliche PAP-Abstrich, der routinemäßig bei der gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung gemacht wird, um Zellveränderungen frühzeitig zu identifizieren, war Anfang der 50er Jahre gerade erst entwickelt worden. Angewendet wurde er aber noch kaum, und die meisten Ärzte waren nicht ausreichend darauf geschult, die Ergebnisse richtig zu interpretieren. Auch gewebeschonende Operationsmethoden wie die Konisation, mit der heutzutage Krebsvorstufen am Muttermund entfernt werden können, gab es damals noch nicht. Bei Auffälligkeiten wurde - oft vorschnell und unnötig - die gesamte Gebärmutter entfernt, wodurch die Patientinnen dann keine Kinder mehr bekommen konnten. Viele Frauen, insbesondere Afroamerikanerinnen wie Henrietta, schoben Besuche beim Gynäkologen daher auf, weil sie Angst vor einer ungewollten Sterilisation hatten.
Bei der Diagnose von Henriettas Zervixkarzinom fällt dem Arzt auf, dass der Tumor scheinbar in kurzer Zeit gewachsen sein muss. Noch wenige Monate zuvor bei Josephs Entbindung war davon noch nichts zu sehen, und auch sonst gab es da noch kein auffälliges Gewebe. Dr. Jones notiert, dass er das schnelle Wachstum für sehr ungewöhnlich hält, und verordnet Henrietta eine aggressive Form der Strahlentherapie.
Bei der Radiumtherapie, die zu der Zeit der Goldstandard in der Krebsbehandlung ist, werden kleine, mit dem radioaktiven Element Radium befüllte Röhrchen an das veränderte Gewebe genäht, um die Krebszellen zu zerstören. Die Gefahren von Radioaktivität waren auch Medizinern damals noch nicht bewusst. Viele Jahrzehnte später sollten viele Ärzte, die mit Radium arbeiteten, durch die Strahlung selber Tumore entwickeln.
Vor Henriettas erster Behandlung entnimmt ihr der Arzt zwei Gewebeproben: eine aus dem Tumor und eine aus dem gesunden Zervixgewebe daneben. Diese schickt er an das Labor des Zellbiologen George Otto Gey.
Gey und seine Frau Margaret forschen am Johns Hopkins schon seit geraumer Zeit im Bereich Zellkultur. Ihr Ziel ist es, eine stabile Zelllinie zu isolieren, die in der medizinischen Forschung genutzt werden kann, ohne immer wieder auf Primärgewebe aus Patienten angewiesen zu sein. Sie tüfteln an verschiedenen Kulturbedingungen und an der optimalen Zusammensetzung des Nährmediums. Dafür experimentieren sie mit Zutaten wie Hühnereiplasma, Extrakt aus Kälberembryos und sogar mit menschlichem Nabelschnurblut, das sie aus der Geburtenstation des Krankenhauses bekommen.
Als Testmaterial für seine Forschung bekommt George Gey regelmäßig auch Gewebeproben von Patienten, die am Johns Hopkins behandelt werden. Die Personen, von denen diese Proben stammen, erfahren davon aber in der Regel nichts.
Der sogenannte „informed consent“ – heute eines der fundamentalen Prinzipien der Medizinethik – war damals noch nicht etabliert. Ärzte und Wissenschaftler nutzten und teilten Zellen und Gewebeproben von Patienten routinemäßig für ihre Forschung, ohne deren Zustimmung einzuholen oder sie überhaupt darüber zu informieren.
Besonders die afroamerikanische Bevölkerung musste damals stets befürchten, der medizinischen Willkür hilflos ausgeliefert zu sein. Manche Ärzte wandten im Namen des wissenschaftlichen Fortschritts fragwürdige Methoden an und experimentierten zum Teil auch direkt an Menschen. Sie verabreichten ihnen nicht zugelassene Medikamente, probierten potenziell schädliche Behandlungsarten an ihnen aus und infizierten sie sogar absichtlich mit Krankheiten, um deren Folgen studieren zu können.
Eines der dunkelsten Kapitel dieser Zeit ist die Tuskegee Syphilis Studie, die ab den 1930er Jahren im US-Bundesstaat Alabama durchgeführt wurde - unter dem bezeichnenden Namen „Tuskegee Study of Untreated Syphilis in the Negro Male“. Hunderten afroamerikanischen Männern wurde dafür vorgetäuscht, dass sie gegen die bakterielle Krankheit behandelt würden, während die Ärzte ihnen in Wirklichkeit nur wirkungslose Placebos verabreichten. Die unfreiwilligen Teilnehmer erfuhren nie vom wahren Zweck der Studie. Viele litten jahrelang unter den Folgen der unbehandelten Krankheit oder starben schließlich daran - und das, obwohl es bereits wirkungsvolle Antibiotika gegen das Syphilis-Bakterium gab, die ihnen aber vorenthalten wurden.
Erst mit dem Nürnberger Kodex, der 1947 nach den grausamen medizinischen Versuchen während des Zweiten Weltkriegs beschlossen wurde, und der Helsinki-Deklaration von 1964 wurde die Grundlage für die Patientenrechte gelegt, die heute gelten. Seitdem muss jeder Patient ausdrücklich in eine medizinische Behandlung einwilligen, bevor diese durchgeführt werden darf, und darüber informiert werden, was mit seinem biologischen Material geschieht.

Bildquelle: Auszug aus "Die Unsterblichkeit der Henrietta Lacks" (2010, Rebecca Skloot)
Eine solche Einwilligung gibt Henrietta nicht, als ihr im Frühjahr 1951 von ihrem Arzt Gewebe entnommen wird. Als ihre Biopsieproben in George Gey’s Labor landen, ist auf einem beiliegenden Zettel lediglich ihr Name, ihr Alter und ihre Diagnose vermerkt. Gey’s Assistentin Mary Kubicek extrahiert, wie schon unzählige Male vorher mit anderen Patientenproben, die Zellen aus dem Gewebe und gibt sie in zwei verschiedene Kulturschalen mit Nährlösung. Diese beschriftet diese wie gewohnt mit dem Datum und einem Kürzel des Patientennamens - "HeLa" - und stellt sie in den Inkubator.
Es gibt wenig Anlass zur Hoffnung, dass die Zellen in Kultur überleben werden, denn alle bisherigen Versuche sind ausnahmslos gescheitert. Doch diesmal steht den Forschern eine Überraschung bevor: Während die Zellen aus Henrietta’s gesunder Gewebeprobe schon nach kurzer Zeit absterben, erweisen sich die Zellen aus ihrer Tumorbiopsie als außerordentlich robust. Bereits nach nur 24 Stunden haben sie sich mehr als verdoppelt und zeigen keine Anzeichen von Stillstand. Auch nach einer Woche teilen sie sich immer weiter und nehmen mittlerweile schon mehrere Kulturschalen ein.
Es dauert nicht lange, bis auch Wissenschaftler aus anderen Instituten von den Zellen Wind bekommen, die da in George Gey’s Labor vor sich hinwachsen. Sie bitten ihren Kollegen um Proben für ihre eigene Forschung, und schon bald arbeiten Labore in mehreren Bundesstaaten mit den unzerstörbaren "HeLa-Zellen".
Einer von ihnen ist der Virologe Jonas Salk. Er forscht an der University of Pittsburgh an einem Impfstoff gegen Poliomyelitis (auch bekannt als Kinderlähmung), einer von Viren verursachten Infektionskrankheit, die in den 40er und 50er Jahren in den USA wütet. Für seine Impfstoffentwicklung benötigt Salk dringend große Mengen an Zellen, an denen er sein neu entwickeltes Vakzin testen kann. HeLa-Zellen kommen dafür wie gelegen, und da der Bedarf so groß ist, beginnt schon bald die Planung für eine "HeLa-Fabrik", in der täglich Millionen Zellen produziert werden sollen. Damit ist der Grundstein für den ersten medizinischen Meilenstein gelegt, der HeLa zu verdanken ist: die erfolgreiche Entwicklung des Polio-Impfstoffs.
Henrietta Lacks bekommt von all dem nichts mit. Sie absolviert nach der ersten Radium-Behandlung noch eine weitere und unterzieht sich dann noch einem mehrwöchigen Therapiezyklus mit Röntgenstrahlen. Doch all diese Behandlungen zeigen keinen Erfolg. Im Sommer 1951 ist Henrietta so geschwächt, dass sie darum bittet, stationär im John Hopkins Hospital aufgenommen zu werden. Weitere Untersuchungen ergeben, dass der Krebs mittlerweile auch in andere Teile ihres Körpers vorgedrungen ist. Er hat Metastasen in der Gebärmutter, an beiden Nieren und an der Harnröhre gebildet und vermehrt sich genau so rasant in Henriettas Körper, wie es ihre Zellen außerhalb tun. Gegen das enorme Wachstum kommen die verfügbaren Behandlungsmethoden nicht mehr an.
Nach weiteren zwei Monaten verliert Henrietta den Kampf gegen den Krebs endgültig. In der Nacht des 4. Oktober 1951 stirbt sie mit nur 31 Jahren. Als Todesursache wird akutes Nierenversagen angegeben, eine Folge der aggressiven Behandlungen. Der Arzt, der die Autopsie vornimmt, hält in seinem Protokoll fest, dass Henriettas Körper so sehr von Tumormetastasen durchsetzt ist, dass es aussieht, als sei er mit Perlen angefüllt worden. Sie wird einige Tage später auf dem Familienfriedhof der Lacks-Familie in Clover beigesetzt.
Doch während ihre Lebenszeit auf der Welt endet, hat die ihrer Zellen gerade erst begonnen.
HeLa Zellen in Kultur, Bildquelle: National Institutes of Health, Tom Deerinck, NIGMS, NIH
Heute, mehr als 70 Jahre später, leben Henrietta Lacks‘ Zellen immer noch. In Petrischalen, Probenröhrchen und Kulturfläschchen in Laboren auf der ganzen Welt existieren sie nun schon mehr als doppelt so lange, wie sie in Henriettas Körper existiert haben.
Es gibt kaum ein naturwissenschaftliches Forschungsgebiet, in dem HeLa-Zellen seitdem nicht verwendet worden sind. Wir verdanken ihnen einige der wichtigsten Meilensteine der Medizin - von der Impfstoffentwicklung über die Krebsmedizin bis hin zur Erforschung von HIV/AIDS. HeLa-Zellen waren in über 120.000 Publikationen und über 12.000 Patentanmeldungen involviert und sind verantwortlich für mindestens drei Nobelpreise. Darunter ist auch der Nobelpreis für Medizin, der 2008 an Harald zur Hausen verliehen wurde für seine Entdeckung, dass humane Papillomaviren (HPV) ursächlich an der Entstehung von Gebärmutterhalskrebs beteiligt sind – also der Krankheit, die Henrietta selbst das Leben kostete.
Warum Henriettas Zellen sich so stark teilen, wurde erst nach und nach entschlüsselt. Genanalysen ergaben, dass HeLa-Zellen eine außergewöhnlich hohe Zahl an Mutationen aufweisen. Viele davon verbessern ihre Teilungsfähigkeit, andere wirken dem zellulären Alterungsprozess entgegen oder verhindern den natürlichen Zelltod. Normalerweise verkürzen sich bei jedem Teilungszyklus die Enden unserer Chromosomen, die sogenannten Telomere. Sie funktionieren wie eine eingebaute Zähluhr und legen fest, wie viele Teilungen eine Zelle durchlaufen kann, bevor sie ihr Maximalalter erreicht hat und in einen Zustand der Seneszenz übergeht (man nennt das auch das sogenannte Hayflick-Limit). Auf diese Weise wird das Risiko minimiert, dass eine Zelle zu viele Mutationen anhäuft, die sie bei weiteren Teilungen an ihre Tochterzellen weitergeben würde. Der natürliche Kontrollmechanismus schützt den Organismus also davor, dass einzelne Zellen entarten und im Körper Probleme verursachen. HeLa-Zellen haben allerdings eine bemerkenswert hohe Aktivität des Enzyms Telomerase, das genau diese Regulation aushebelt, indem es die verkürzten Stücke der Telomere einfach wieder auffüllt.
Mit Hilfe moderner Gensequenzierungsanalysen fanden die Forscher in den 2010er Jahren außerdem heraus, dass Henriettas Gebärmutterhalskrebs wohl von dem Virenstamm HPV-18 ausgelöst wurde, mit dem sie sich im Laufe ihres Lebens infiziert hatte. Dieser hatte sein virales Erbgut in ihre DNA eingeschleust und dort ein wichtiges Tumorsuppressor-Gen ausgeschaltet. Das verlieh den Zellen die Fähigkeit, sich unkontrolliert zu teilen und immer weiter zu wachsen.
Dieses Verständnis der genetischen Besonderheiten von HeLa ist übrigens auch dafür verantwortlich, dass Wissenschaftler heute in der Lage sind, auch andere Zellarten zu immortalisieren, also zur unbegrenzten Teilung in vitro zu bringen.
Es existieren keine verlässlichen Daten dazu, wie oft Henriettas Zellen bis heute in Kultur vermehrt worden sind. Bei der durchschnittlichen Verdoppelungszeit von nicht einmal 24 Stunden kann eine einzige HeLa-Zelle innerhalb von nur einem Monat über eine Milliarde Tochterzellen bilden. Nahezu jeder Biowissenschaftler, der jemals in einem Zellkulturlabor gestanden hat, hat an irgendeinem Punkt in seiner Laufbahn mit ihnen gearbeitet, sie weiterkultiviert und mit ihnen experimentiert. Man darf daher annehmen, dass die Gesamtzahl aller jemals existierenden HeLa-Zellen schier unvorstellbar groß ist. Zur besseren Veranschaulichung:
Henrietta war 1,50 m groß und wog knappe 50 kg. Würde man alle HeLa-Zellen, die jemals in Kultur vermehrt wurden, aneinanderreihen, würden sie zusammengenommen mehrere hundert Millionen Tonnen wiegen und die Erde mehr als 3-mal umspannen.
Henriettas Geschichte ist eine Geschichte enormer wissenschaftlicher Errungenschaften und bahnbrechender medizinischer Entdeckungen. Es ist eine Geschichte, durch die essenzielle Fragen der Bioethik in den Fokus gerückt sind, die auch heute, 73 Jahre später, noch aktueller denn je sind. Es ist die Geschichte einer jungen afroamerikanischen Frau ohne Vermögen, Status oder Einfluss, die die medizinische Forschung auf eine Weise revolutioniert hat, wie es wohl niemand nach ihr jemals wieder schaffen wird.
Es ist aber auch die Geschichte einer Frau, die als Mutter, Schwester, Ehefrau und Freundin ein genauso unsterbliches Vermächtnis hinterlassen hat wie mit ihren Zellen. Sie hat zu Recht ihren Platz in den Geschichtsbüchern erlangt: als die unsterbliche Henrietta Lacks.
Quellen:
Skloot R. : The Immortal Life of Henrietta Lacks (2011), ISBN 1400052181
“The Legacy of Henrietta Lacks,” https://www.hopkinsmedicine.org/henrietta-lacks , Johns Hopkins Medicine Website (aufgerufen am 7. Juli 2024)
Turner T. Development of the polio vaccine: a historical perspective of Tuskegee University's role in mass production and distribution of HeLa cells. J Health Care Poor Underserved. 2012;23(4 Suppl):5-10.
Sun H, et al. Identification of HPV integration and gene mutation in HeLa cell line by integrated analysis of RNA-Seq and MS/MS data. J Proteome Res. 2015;14(4):1678-1686.
American Type Culture Collection (ATCC) Produktkatalog: https://www.atcc.org/products/ccl-2 (aufgerufen am 31. Juli 2024)
US National Institutes of Health (NIH) Übersicht "Significant Research Advances enabled by HeLa cells", https://osp.od.nih.gov/hela-cells/significant-research-advances-enabled-by-hela-cells/ (aufgerufen am 31. Juli 2024)
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