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Die Wissenschaft des Alterns

  • katrinflatscher
  • 19. Dez. 2024
  • 11 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 28. Feb.

Elie Metchnikoff (AI-generiertes Bild)

Elie Metchnikoff (AI-Bild)


Juni 1904. Die große Aula der Französischen Gesellschaft für Agrarwissenschaften ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Immer noch drängen Zuseher in den Saal, um den Professor vom Institute Pasteur zu hören, der als einer der renommiertesten Wissenschaftler Europas gilt. Der Titel seines Vortrags lautet „Hohes Alter“ – ein Thema, das auf breites Interesse stößt, denn schließlich ist im Vorfeld gemunkelt worden, dass der berühmte Forscher das Geheimnis verraten will, wie man 100 Jahre oder sogar älter werden kann.


Als der Professor die Bühne betritt, zieht er die Zuhörer sofort in seinen Bann. Er ist knapp 60 Jahre alt und hat schütteres weißes Haar und zahlreiche charakteristische Denkerfalten auf der Stirn – und dennoch strotzt er vor Vitalität und Energie. Er verliert keine Zeit, um zum Kernpunkt seines Vortrags zu kommen. In einem düsteren Exkurs berichtet er über den „Fluch“ des Alterns. Alte Menschen, sagt er, hätten eine bedauernswerte Existenz, denn sie seien gebrechlich, schwach und von ständigen Schmerzen geplagt. Für die Allgemeinheit seien sie „unbrauchbar“, denn sie seien nicht mehr fähig, noch etwas Sinnvolles zum gesellschaftlichen Leben beizutragen. In manchen Kulturen würden die Älteren daher sogar einvernehmlich getötet, um keine Bürde mehr für die Gemeinschaft zu sein.


Doch endlich habe die Wissenschaft wohl die Wurzel dieses schrecklichen Übels gefunden. Schuld daran, dass der Mensch altert, sei der Darm. Ausgehend von dort würde der Körper nämlich schleichend vergiftet, und zwar durch Bakterien, die toxische Fäulnisstoffe produzieren. Diese würden sich mit der Zeit im Körper ansammeln und schließlich zu all den schwerwiegenden Problemen führen, durch die das Alter gekennzeichnet ist.


Mit funkelnden Augen, ausladenden Gesten und der enthusiastischen Überzeugung eines Visionärs spricht der Mann darüber, wie die Wissenschaft dafür sorgen wird, dass die Menschen den schleichenden Verfall ihrer physischen und mentalen Fähigkeiten künftig nicht mehr demütig hinnehmen müssen. Um den Vergiftungsprozess aufzuhalten, müsse man nämlich die schädlichen Bakterien im Darm durch gute ersetzen. Dadurch ließe sich das Altern letztlich aufhalten und die Menschen könnten ein gesünderes, glücklicheres und vor allem wesentlich längeres Leben führen. Und die Lösung, diese „guten Bakterien“, habe er bereits gefunden. Und zwar in einem kleinen bulgarischen Bergdorf.


Der junge Elie Metchnikoff während seines Studiums

Der junge Elie Metchnikoff während seiner Studienzeit (Bild, Public Domain, via Wikimedia Commons)


Elie Metchnikoff wird am 16. Mai 1845 als jüngstes von fünf Kindern im ukrainischen Charkiw geboren, das damals zum Russischen Kaiserreich gehört. Seine Familie ist gut situiert und recht wohlhabend; sein Vater Ilya ist Offizier in der russischen Leibgarde und seine Mutter Emilia stammt aus einer angesehenen jüdischen Literatenfamilie, in der seit jeher großer Wert auf Bildung und Kultur gelegt wird.


Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass der kleine Elie den Wissensdurst wohl bereits mit der Muttermilch aufgesogen haben muss. Im Kindesalter ist er aufgeweckt, neugierig und voller Bewegungsdrang, der oft schon fast an Hyperaktivität grenzt. Nicht selten beschweren sich Familienmitglieder, dass er ihnen ständig hinterherrennt und beschäftigt werden will. Seine spätere Frau Olga wird es in der Biographie ihres Mannes einmal so ausdrücken: „Er war so rastlos, dass ihn alle nur „Quecksilber“ nannten. Er wollte immer alles sehen und alles wissen. Sein Bewegungsdrang konnte nur gestillt werden, wenn irgendein Naturobjekt, etwa ein Insekt oder ein Schmetterling, seine Neugier weckte und er es dann stundenlang beobachten konnte.“


Mit 15 ist Elies Passion für die Naturwissenschaften so ausgeprägt, dass er vorzeitig und mit Bravour die Schule abschließt und sich an der Universität Charkiw einschreibt. Das Fach, das er sich aussucht, ist Zoologie – und die ist gerade so populär wie kaum eine andere Wissenschaftsdisziplin. Kaum zwei Jahre zuvor hat der britische Naturforscher Charles Darwin sein zukunftsweisendes Werk „Die Entstehung der Arten“ veröffentlicht und damit die bisherigen biologischen Grundvorstellungen gehörig auf den Kopf gestellt. Der Großteil der Fachwelt ist nun damit beschäftigt, seine Theorie zu bestätigen, dass alles Leben von einem gemeinsamen Vorfahren abstammt.

Auch Metchnikoff ist fasziniert von Darwin und seinen Evolutionsthesen. Die Idee, dass sich Lebewesen und ihre biologischen Prozesse an ihre Umgebung anpassen und sich durch die Einflüsse, denen sie unterliegen, weiterentwickeln, wird auch zu einem zentralen Grundgedanken in seiner eigenen Forschung.


Sein Studium führt ihn über einige Zwischenstationen in Deutschland, wo er die Verdauungsprozesse in Nematoden-Würmern untersucht, ins süditalienische Neapel. Dort will er seine Forschung auch an Meerestieren fortsetzen und seine Doktorarbeit über die Embryonalentwicklung von Tintenfischen schreiben. Doch statt zu einer produktiven Studienreise wird der Aufenthalt in Italien für Metchnikoff zu einer Konfrontation mit der menschlichen Sterblichkeit. Im Herbst 1865 bricht die Cholera in Neapel aus. Die Auswirkungen der Epidemie sind spürbar und unter der Bevölkerung geht die Angst vor der meist tödlichen Seuche um. Das sonst emsige Treiben in der Stadt am Fuße des Vesuvs wird andauernd von Trauerglocken und Begräbnisprozessionen unterbrochen, und die lauernde Präsenz des Todes ist allgegenwärtig.


Es soll Metchnikoffs erste Begegnung mit dem Tod sein. In den kommenden Jahrzehnten wird er eine zentrale Rolle spielen und sowohl sein Privatleben als auch seine Forschung entscheidend prägen. Als dann eine junge Kollegin der Cholera erliegt, beschließt er, Italien den Rücken zu kehren und seinen Studienabschluss in Odessa und St. Petersburg zu absolvieren.


Dort lernt er auch seine erste Frau, Ludmilla Feodorovitch, kennen. Sie ist die Schwester eines Kommilitonen, und Metchnikoff ist so beeindruckt von ihrer Intelligenz und Belesenheit, dass er schon bald um ihre Hand anhält. Das junge Glück währt allerdings nicht lange, denn kurz nach der Verlobung erkrankt Ludmilla schwer an Tuberkulose. Bereits am Hochzeitstag ist sie so von der Krankheit geschwächt, dass sie zur Trauung getragen werden muss. Trotz Metchnikoffs hingebungsvoller Pflege stirbt Ludmilla nur wenige Jahre später und macht ihn mit nur 28 zum Witwer. Der Tod seiner Frau stürzt ihn in eine tiefe Depression und bringt ihn schließlich dazu, einen Selbstmordversuch zu unternehmen. Dass es beim Versuch bleibt, ist nur der Tatsache zu verdanken, dass er das Morphium, mit dem er sich vergiftet, so stark überdosiert, dass er den größten Teil davon wieder erbricht und in der Folge überlebt.


Elie und Olga Metchnikoff, ca. 1908

Elie und Olga Metchnikoff, ca. 1908 (Bild, Public Domain, via Wikimedia Commons)


Der gescheiterte Suizidversuch beschert Metchnikoff nicht nur eine zweite Chance im Leben, sondern in den Jahren darauf auch noch eine neue Frau. Die junge Studentin Olga Belakopytova übernimmt zunächst die Pflege des geschwächten Wissenschaftlers und wird mit der Zeit eine wertvolle emotionale Stütze für ihn – und schließlich seine zweite Ehefrau. Selbst Naturwissenschaftlerin, unterstützt sie ihn bei seiner Arbeit und diskutiert leidenschaftlich gern mit ihm seine neuesten Ideen und Erkenntnisse. Vor allem aber kümmert sie sich um die praktischen Belange und die Organisation des gemeinsamen Alltags, sodass ihr Ehemann sich ganz auf seine Arbeit konzentrieren kann. Und diese führt Metchnikoff 1882 ein weiteres Mal nach Italien.


Die Insel Sizilien soll der Schauplatz der Entdeckung sein, für die er 26 Jahre später zusammen mit dem deutschen Mediziner Paul Ehrlich den Medizinnobelpreis erhalten wird – für die Entdeckung der körpereigenen Immunabwehr. Während Olga die Tage außer Haus verbringt, um die Umgebung zu erkunden, bleibt Metchnikoff meist in der gemeinsamen Ferienunterkunft, einem Landhaus mit einem fantastischen Blick über die Straße von Messina. In einem Zimmer des gemieteten Landhauses hat er sich ein Arbeitszimmer eingerichtet, in dem er mit mitgebrachten Mikroskopen und Utensilien Schraubgläser voller Meerwasser und die darin lebend Organismen studiert.


Bei der Untersuchung von Seesternlarven macht er schließlich eine überraschende Entdeckung. In den Larven beobachtet er eine besondere Art von Zellen, die kleinere herumschwimmende Partikel aufzuspüren und aufzufressen scheinen. Diese Zellen, spekuliert er, würden alles, was nicht in die Larven gehört, als Fremdkörper wahrnehmen und beseitigen - ein biologisches Aufräumkommando, das zweifellos ein Verteidigungsmechanismus der Larven sein müsse, mit dem sie sich vor potenziellen Krankheitserregern schützen.


Er reproduziert das Experiment mehrfach und mit verschiedenen Spezies - von einfachen Amöben bis hin zu Insekten. Er sticht Piniennadeln und Rosendornen in seine Untersuchungsobjekte und testet deren Reaktionen auf Pilzsporen, Kohlepartikel und Mikroorganismen. Die Beobachtung ist stets die gleiche: Als Reaktion auf jegliche Art von Fremdkörper sammeln sich schon bald die kleinen Fresszellen rund um die Eintrittsstelle und versuchen, den Eindringling wieder zu entfernen. Metchnikoff stellt fest, dass die Zellen denjenigen ähneln, die er auch schon in Säugetieren und in anderen Lebewesen mit einem Blutkreislauf beobachtet hat: die weißen Blutkörperchen, die er zum Beispiel schon aus Wunden, um die sich Eiter gebildet hat, isoliert hat. Er schlussfolgert, dass diese Zellen womöglich Teil eines universellen Abwehrsystems sein könnten, das alle Lebewesen besitzen, um Krankheitserreger zu bekämpfen. Angelehnt an ihre Eigenschaft, körperfremde Stoffe aufzunehmen und unschädlich zu machen, gibt er den Fresszellen den Namen „Phagozyten“– ein Begriff, unter dem sie auch heute noch in der Immunologie bekannt sind.



Phagozytose (Video von Behnsen J, et al, CC BY 2.5, via Wikimedia Commons)


Die Vorstellung eines körpereigenen Abwehrsystems ist im späten 19. Jahrhundert ein völlig neues Konzept. Die meisten Wissenschaftler der damaligen Zeit sind Anhänger der sogenannten Humoralpathologie, einer auf Hippokrates zurückgehenden medizinischen Theorie, die glaubt, dass die Gesundheit des Körpers durch das Zusammenspiel der Körpersäfte („humores“) bestimmt wird. Geraten Blut, Galle, Lymphe oder Schleimsekrete aus dem Gleichgewicht, sei das die Grundlage für die Krankheitsentstehung. Viele damals gängige Therapieformen, zum Beispiel der Aderlass, induziertes Erbrechen oder Kräutereinläufe, basieren auf dieser Auffassung und zielen darauf ab, die schadhaften Körpersäfte auszuleiten und auf diese Weise einen gesunden Gleichgewichtszustand wiederherzustellen.


Auch in der breiten Bevölkerung stößt Metchnikoffs Immuntheorie nicht auf Anklang. Es gilt auch für Wissenschaftler nach wie vor als verpönt, Ideen zu verbreiten, die die religiösen Grundvorstellungen in Frage stellen. Auch ein Vierteljahrhundert nach deren Veröffentlichung gibt es immer noch keinen einhelligen Konsens über Charles Darwins Evolutionstheorie, und eingesessene Kreationisten versuchen vehement, die vermeintliche Sonderstellung des Menschen in der Schöpfungsgeschichte zu verteidigen. Ihnen zufolge ist Krankheit ein Ausdruck göttlicher Prüfung oder Strafe für moralisches Fehlverhalten, Genesung hingegen das Ergebnis von göttlichem Willen. So stößt die These eines universellen Abwehrsystems, das allen Lebewesen gemein ist, auf gehörige Skepsis und Ablehnung; schließlich deutet Metchnikoff damit doch an, dass der Mensch über die gleichen zellulären Mechanismen wie Seesterne und Amöben verfüge und damit evolutiv auf einer Stufe mit diesen primitiven Lebensformen stehe.


Metchnikoff selbst ist allerdings fest überzeugt von seiner Theorie. Er gibt nicht viel auf religiöse Weltbilder, die er als anachronistisch und verstaubt empfindet. Er ist stattdessen ein glühender Verfechter des sogenannten wissenschaftlichen Positivismus, einer humanistischen Weltanschauung, die davon ausgeht, dass nicht die Religion, sondern die Wissenschaft die Antworten auf die grundlegenden Fragen des Lebens liefern könne.

„Die Wissenschaft ist die einzige wahre Kraft, die die Menschheit in die Lage versetzt, ihre Existenz zu verstehen und ihre Zukunft zu gestalten.“

Im Jahr 1885 ereilt Metchnikoff aber ein weiterer Schicksalsschlag. Seine Frau Olga erkrankt schwer an Typhus, und er ist erneut mit dem drohenden Tod konfrontiert. Parallel dazu leidet er mit seinen mittlerweile 40 Jahren selbst an diversen Gesundheitsproblemen. Das ständige Mikroskopieren, gepaart mit einer infektiösen Augenentzündung, hat seine Sehkraft deutlich verringert. Dazu kommen chronische Verdauungsprobleme und eine lähmende Erschöpfung, die seinen Arbeitsalltag schmerzhaft und beschwerlich machen.


Die depressiven Verhaltensmuster, die er glaubt überwunden zu haben, flammen wieder auf. Sie münden schließlich in einem weiteren Selbstmordversuch – diesmal mit einer Injektion des sogenannten Rückfallfiebers, einer durch Borrelien verursachten Infektionskrankheit. Sei Plan ist auch, zu beweisen, dass die Krankheit über das Blut übertragen werden kann, was bislang noch nicht belegt ist. Auf diese Weise, meint er, könne er der Wissenschaft einen letzten Dienst erweisen, indem er genau dokumentierte Einblicke in das Krankheitsgeschehen hinterlassen würde. Gleichzeitig könnte er so zusammen mit seiner Frau aus dem Leben scheiden.


Die Infektion löst wie erwartet eine schwere Krankheit aus und führt ihn an die Schwelle des Todes. Doch erneut überlebt er, genauso wie Olga. Sie hält später in Metchnikoffs Biografie fest, dass die Erfahrung, dem Tod ein weiteres Mal entkommen zu sein, zu einem entscheidenden Wendepunkt wird und ihm einen plötzlichen Lebenswillen verleiht, der auch seine gesamte weitere Karriere bestimmen wird. Statt den Tod herbeizusehnen, will er ihm nun trotzen – und das nicht nur auf persönlicher, sondern vor allem auf wissenschaftlicher Ebene. Er stürzt sich Hals über Kopf in die Forschung an dem bislang wohl mysteriösesten Fachgebiet der Wissenschaft: dem Altern. 


Elie Metchnikoff in seinem Labor am Institute Pasteur

Elie Metchnikoff in seinem Labor am Institute Pasteur (Bild, Public Domain, via Wikimedia Commons)


Metchnikoff will den Alterungsprozess aber nicht nur studieren. Er will ihn aufhalten.

„Das Altern ist eine Krankheit wie jede andere, und man muss diese Krankheit auch heilen wie jede andere.“

Die Wissenschaft, so ist er überzeugt, sei in der Lage, das Problem der menschlichen Sterblichkeit zu lösen und den Menschen ein besseres und längeres Leben zu ermöglichen. Ab einem gewissen Alter, so glaubt Metchnikoff, würde bei den Menschen dann ein ganz natürlicher „Todesinstinkt“ eintreten, durch den sie dem Tod nicht nur gelassen, sondern sogar erwartungsfroh und euphorisch entgegensähen. Die Aufgabe der Wissenschaft sei es, das Leben bis zu diesem Zeitpunkt so harmonisch und angenehm wie möglich zu gestalten. Das Forschungsgebiet, das sich aus dieser Idee entwickelt, ist heute als Gerontologie bekannt – ein Begriff, den Metchnikoff als Erster verwendet.

 

1888 tritt er eine Professur am weltbekannten Pasteur-Institut in Paris an, damals eines der bedeutendsten Zentren wissenschaftlicher Innovation und Geburtsort bahnbrechender wissenschaftlicher Errungenschaften wie des ersten Tollwut-Impfstoffs. Dessen berühmter Namensgeber Louis Pasteur und Wissenschaftler wie Émile Roux, Albert Camette und Alexandre Yersin sind dort führend im Bereich der Immunologie und Infektiologie. Metchnikoff profitiert enorm von diesem interdisziplinären Umfeld. Die Professur bietet ihm nicht nur hochwertigen professionellen Austausch, sondern auch Zugang zu bestens ausgestatteten Labors mit modernster Analysetechnik. Dank der am Pasteur-Institut vorhandenen Expertise im Bereich Bakteriologie reift vor allem sein Konzept über die Rolle des Darms in Bezug auf den Alterungsprozess und die Theorie der Selbstvergiftung durch schädliche Bakterien.


„Alle Krankheit beginnt im Darm.“, behauptete schon der griechische Mediziner Hippokrates vor über 2000 Jahren. Und Metchnikoff ist überzeugt, dass diese Vermutung richtig ist. Bei seiner jahrzehntelangen zoologischen Forschung hat er festgestellt, dass Tierarten mit einem kurzen Darm, etwa Reptilien oder Vögel, wesentlich länger leben als der Mensch mit seinem meterlangen Verdauungstrakt. Daraus schließt er, dass der Darm - beziehungsweise das, was sich darin befindet – einen unmittelbaren Einfluss auf die Gesundheit und damit auch die Lebensspanne eines Organismus haben müsse.


Im späten 19. Jahrhundert ist in der Wissenschaft die Rolle von Mikroorganismen als Krankheitserreger weitgehend akzeptiert. Man weiß, dass schädliche Bakterien ursächlich für Krankheiten wie Tuberkulose, Cholera und Milzbrand verantwortlich sind. Insbesondere durch die Arbeit von Louis Pasteur und Robert Koch ist aber auch bekannt, dass Bakterien nicht nur die pauschalen Übeltäter sind, sondern in manchen Situationen auch nützlich sein können, zum Beispiel bei der Fermentierung von Lebensmitteln.


Und genau solche Bakterien findet Metchnikoff schließlich in dem bulgarischen Bergdorf, von dem er auch den Zuhörern seines Vortrags im Jahr 1904 begeistert erzählt. Unter den dortigen Dorfbewohnern gibt es eine auffallend hohe Anzahl an Zentenaren, also Menschen, die hundert Jahre oder älter sind und sich guter Gesundheit erfreuen. Der Grund dafür liegt scheinbar in ihren Ernährungsgewohnheiten: Die Einwohner konsumieren täglich Joghurt, das sie aus fermentierter Schaf- und Ziegenmilch herstellen, und berichten von erstaunlichen Wirkungen auf ihr Befinden.


Den Wirkmechanismus des vermeintlichen Lebenselixiers macht Metchnikoff schnell aus: Die im Joghurt enthaltenen Milchsäurebakterien sind offenbar in der Lage, die krankmachenden, schlechten Bakterien im Darm zu ersetzen und auf diese Weise deren schädliche Auswirkungen im Körper zu verhindern. Er nennt diesen Prozess „Orthobiose“ (etwa: „richtiges Leben“) und legt mit der Entdeckung der „guten Bakterien“ den Grundstein für das, was wir heute als „Probiotika“ kennen - abgeleitet vom griechischen Begriff für „lebensfördernd“.


Bulgarisches Joghurt mit der enthaltenen probiotischen Bakterienart Lactobazillus bulgaricus

Bulgarisches Joghurt mit der enthaltenen probiotischen Bakterienart Lactobazillus bulgaricus 

(Bild von Ned Jelyazkov, Public Domain, , CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)


Bei seinem Vortrag 1904 in Paris ahnt Metchnikoff wahrscheinlich noch nicht, dass er mit seinem Bericht über die gesundheitsfördernden Eigenschaften von Joghurt einen globalen Hype auslösen wird. Doch schon tags darauf überschlagen sich die Zeitungen mit Schlagzeilen, in denen Joghurt als der heilige Gral der Langlebigkeit gefeiert wird. „Trinke Sauermilch und werde 180 Jahre alt!“, „Eine tägliche Portion Joghurt kann die natürliche Lebensspanne des Menschen verdoppeln“.


Die Revolution in der Lebensmittelindustrie, die damit losgetreten wird, dauert bis heute an. Konzerne wie Danone oder Yakult verstehen sich darauf, den neuen Trend im großen Maßstab zu kommerzialisieren, und fahren mit probiotischen Produktpaletten sagenhafte Umsatzhochs ein. In den meisten westlichen Ländern werden fermentierte Milchprodukte wie Joghurt, Kefir und Buttermilch schon bald zum festen Bestandteil gesundheitsbewusster Ernährung.


Auch in Fachkreisen findet Metchnikoff Arbeit schließlich das Gehör und die Anerkennung, die ihm in den Jahren davor für seine Theorien rund um das Immunsystem lange verwehrt geworden ist. Seine Thesen legen den Grundstein für die moderne Probiotikaforschung und rücken das Darmmikrobiom als Eckpfeiler der ganzheitlichen Gesundheit ins Zentrum wissenschaftlichen Interesses.


Die Hoffnung, dass der Mensch durch den Konsum von Joghurt ein Lebensalter von 150 Jahren und mehr erreichen könne, erweist sich allerdings als falsch – nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für Elie Metchnikoff selbst. Er stirbt im Juli 1916 im Alter von 71 Jahren an Herzversagen.


Sein großes Ziel, das Altern aufzuhalten und den Tod zu besiegen, hat er nicht erreicht. Doch die unzähligen Meilensteine, die die Forschung dank seiner Erkenntnisse erreicht hat, beweisen, dass sich sein größter Wunsch bewahrheitet hat:

„Die Wissenschaft wird nicht nur die Geheimnisse der Natur entschlüsseln, sondern auch die Macht verleihen, das menschliche Leben zu verbessern.“

Elie Metchnikoffs Asche befindet sich bis heute in der Großen Bibliothek des Pasteur-Instituts und erinnert die heutigen Generationen an den großen Wissenschaftler - den Vater der zellulären Immunologie, Begründer der Altersforschung und Vorreiter der Probiotika- und Mikrobiomforschung.



Quellen:


Metchnikoff, Olga (1921). Life of Elie Metchnikoff, 1845-1916, ISBN 1163717770, eBook zugänglich auf https://www.gutenberg.org/


Teti G, et al. The Phagocyte, Metchnikoff, and the Foundation of Immunology. Microbiol Spectr. 2016;4(2):10.1128/microbiolspec.MCHD-0009-2015.


Ramtin Arablouei (Moderator). The Man Who Cured Aging. (Audio-Podcast). Throughline, NPR National Public Radio (25. Januar 2024)


Gordon S. Elie Metchnikoff, the Man and the Myth. J Innate Immun. 2016;8(3):223-227. doi:10.1159/000443331



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