top of page

Die Mikrobiologie des freien Willens

  • katrinflatscher
  • 4. Nov. 2024
  • 11 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Nov. 2024

Die MIkrobiologie des freien Willens

Nagetiere wie Mäuse und Ratten haben im Allgemeinen nicht den besten Ruf. Sie gelten als unhygienische Schädlinge, die Lebensmittel kontaminieren, Baustrukturen beschädigen und Krankheiten übertragen. Spätestens seit der Schwarzen Pest im Mittelalter, deren bakterieller Erreger Yersinia pestis vorwiegend durch infizierte Ratten in die Bevölkerung eingeschleppt wurde, sind wilde Nagetiere für viele Menschen Symbole für unheilvolle Seuchen. Und tatsächlich können nahezu alle Bakterien, Viren und Parasiten, die Nagetiere befallen, auch dem Menschen gefährlich werden – darunter auch ein eukaryotischer Einzeller namens Toxoplasma gondii.


Prinzipiell können alle Säugetiere Wirte für Toxoplasma sein. Besonders häufig findet man den Parasiten aber in Mäusen. Diese sind für ihn allerdings nur Zwischenwirte, denn wo er wirklich hingelangen möchte, ist in den Darm von Katzen - das ist nämlich der einzige Ort, an dem er sich sexuell vermehren kann. Hat Toxoplasma einmal eine Maus infiziert, nistet er sich zunächst in ihrem Verdauungstrakt ein und beginnt sich zu vermehren. Dann wandert er über den Blutkreislauf in das Gehirn der Maus und setzt dort eine Reihe von manipulativen Veränderungsprozessen in Gang. Mit Hilfe eines Cocktails an neuromodulierenden Substanzen beginnt der Parasit, Stück für Stück das Verhalten des kleinen Nagers zu manipulieren. Diese dienen in erster Linie dazu, die Selbstschutzmechanismen der Maus auszuhebeln. Sie verliert dadurch nicht nur ihre natürliche Scheu vor Katzen, sondern wird sogar darauf umgepolt, aktiv die Nähe des Fressfeindes zu suchen. Das endet über kurz oder lang, wie es enden muss: Die Maus wird von der Katze gefressen und Toxoplasma erreicht auf diese Weise seinen Bestimmungsort.

 

Wer nun glaubt, Geschichten über verhaltensmanipulierende Parasiten seien lediglich eine seltene Laune der Natur und geschähen nur in tierischen Wirten, irrt sich gewaltig.

Tatsächlich ist Toxoplasma ziemlich häufig auch in Menschen zu finden. Man schätzt, dass bis zu 30% der Bevölkerung den Parasiten unbemerkt in sich tragen. Menschen können sich über direkten Kontakt mit Katzen und deren Ausscheidungen infizieren und in der Folge die gleichnamige Krankheit Toxoplasmose entwickeln. Diese bewirkt nicht nur in Mäusen subtile Verhaltensänderungen, sondern kann auch im Menschen charakteristische neurologische Symptome und Persönlichkeitsveränderungen auslösen. Zahlreiche Studien konnten zum Beispiel feststellen, dass infizierte Personen impulsive Verhaltensweisen an den Tag legen - unter anderem ein deutlich erhöhtes Unfallrisiko im Straßenverkehr, das wohl auf die gesteigerte Waghalsigkeit zurückzuführen ist, die der Toxoplasma-Parasit in seinen Wirten hervorruft. Es gibt auch Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Toxoplasmose und psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie und bipolaren Störungen.


Katz' und Maus-Spiel

Katz' & Maus-Spiel (Public Domain, PDM 1.0)


Toxoplasma gondii ist nur ein Beispiel für einen parasitären Organismus, der die Fähigkeit entwickelt hat, das Verhalten seines Wirts zu manipulieren, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. In der Biologie nennt man diese Form der evolutionären Adaptierung „extended phenotype“ (etwa: erweiterte Ausprägung). Der Begriff stammt vom britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der das Thema in seinem gleichnamigen zweiten Buch (nach dem viel beachteten „The Selfish Gene“) eingehend beleuchtet.

Die Annahme dahinter ist folgende: Die Effekte eines Gens sind nicht nur auf dessen unmittelbare Ausprägung im Körper begrenzt, sondern können in manchen Fällen auch über den jeweiligen Organismus hinaus wirken. Auf diese Weise können Gene auch Veränderungen in der äußeren Umgebung hervorrufen, zum Beispiel indem sie das Verhalten anderer Lebewesen oder Strukturen in der Umwelt beeinflussen. Typische Beispiele sind etwa die Nester von Vögeln oder die Dammbauten eines Bibers, die beide dazu dienen, den Tieren bessere Überlebenschancen zu verschaffen. Wie man mittlerweile weiß, sind diese Verhaltensweisen nicht erlernt, sondern instinktiv. Das heißt, es gibt eine genetische Basis, die den Tieren diese Fähigkeiten verleiht. Sie wissen „von Natur aus“, wie sie ein Nest oder einen Damm bauen müssen, auch wenn es ihnen nicht beigebracht wird. Die Gene, die diese Informationen tragen, wirken also direkt auf das Verhalten der Tiere, um ihre evolutionären Erfolgsaussichten zu verbessern - ebenso wie das der Toxoplasma-Parasit tut.


Als Parasit kann grundsätzlich jeder Organismus gelten, der in oder auf einer anderen Spezies lebt und auf irgendeine Weise von seinem Wirt profitiert. Auf makroskopischer Ebene sind das zum Beispiel Läuse, Flöhe, Zecken oder Würmer, auf mikroskopischer sind es Einzeller, Viren und Bakterien.

Gerade die letztere Gruppe rückt immer stärker ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit. Sie ist ein wesentlicher Teil von dem, was jeden Menschen als Individuum ausmacht. Die Spezies Mensch besteht neben dem Knochengerüst und den Gewebeschichten drumherum nämlich auch noch aus einer dritten zellulären Dimension: aus den unzähligen Mikroorganismen, mit denen wir uns unseren Körper teilen.

In ihrer Gesamtheit werden sie als das „Mikrobiom“ bezeichnet. Der Begriff stammt vom US-amerikanischen Molekularbiologen Joshua Lederberg, einem Pionier der mikrobiellen Forschung, der 1954 im Alter von nur 33 Jahren dafür mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Er beschrieb das menschliche Mikrobiom in einer bahnbrechenden Publikation im Jahr 2001 als „eine ökologische Gemeinschaft von zusammenwirkenden und pathogenen Mikroorganismen, die in und auf uns leben“.


Diese Gemeinschaft hat eine schier überwältigende Zahl an Mitgliedern. Allein in unserem Darm leben rund 40 Billionen Mikroorganismen - also ungefähr gleich viel, wie wir eigene Zellen besitzen. Das bedeutet: Mindestens die Hälfte der Zellen, die uns als Gesamtindividuum ausmachen, enthält nicht unsere eigene DNA. Noch beeindruckender ist der Unterschied auf genetischer Ebene: Dank der Arbeit des Human Genome Projects wissen wir, dass der Menschen ungefähr 20.000 proteinkodierende Gene besitzt (neuere Analysen lassen sogar vermuten, dass es deutlich weniger sind). Unsere Darmbakterien kommen dagegen zusammengenommen auf 2 bis 20 Millionen Gene - also 100- bis 1000-mal so viele wie unsere eigenen. Da ist es durchaus berechtigt, sich zu fragen, wer eigentlich die Vorherrschaft in unserem Körper hat.


Mikrobiom des menschlichen Körpers

Das menschliche Mikrobiom (Darryl Leja, NHGRI. via Flickr, Public Domain, PDM 1.0)

 

Beim Großteil der Mikroorganismen, die in unserem Darm leben, handelt es sich glücklicherweise nicht um Parasiten, sondern um sogenannte Symbionten. Das bedeutet, wir leben in einer nützlichen Zweckgemeinschaft mit ihnen. Sie bekommen von uns - in Form der Nahrung, die wir zu uns nehmen - die Nährstoffe, die sie zum Überleben brauchen, und wir profitieren im Gegenzug von den zahlreichen Funktionen, die sie in unserem Organismus erfüllen. Auf unserer Hautoberfläche und auf den Schleimhäuten sind Bakterien Teil der Schutzbarriere gegen eindringende Fremdkörper. Im Körper spielen sie eine essenzielle Rolle im Verdauungstrakt, wo sie den Stoffwechsel unterstützen, Hormone und Botenstoffe produzieren und die Immunfunktion regulieren. Und sie haben auch einen markanten Einfluss auf unser Gehirn.


Im Volksmund wird der Darm manchmal als unser „zweites Gehirn“ bezeichnet. Genau genommen ist das aber nicht richtig. Der Darm und sein zentrales Steuersystem, das sogenannte enterische Nervensystem (ENS), ist entwicklungsgeschichtlich eigentlich unser erstes Gehirn. Das Überleben der ersten Lebewesen war vorrangig von der Fähigkeit abhängig, Nährstoffe zur Energiegewinnung nutzen zu können – und dafür war auch irgendeine Form von neuronaler Kontrolle nötig. Daher dürfte das ENS im Laufe der Evolution wahrscheinlich lange vor dem zentralen Nervensystem (ZNS) entstanden sein und womöglich sogar die funktionelle Vorlage dafür geliefert haben.


Darmbeschwerden in Verbindung mit der psychischen Gesundheit

DIe Darm-Hirn-Achse (Bild: Canva)


Schon seit langer Zeit wissen Forscher um den Zusammenhang zwischen Darmbeschwerden (wie etwa Verstopfung oder Durchfall) und dem Gemütszustand der betroffenen Patienten. Redewendungen wie „Das ist mir auf den Magen geschlagen“, „Das sagt mir mein Bauchgefühl“ oder „Davor hab ich Schiss“ verdeutlichen, wie ausgeprägt und spürbar die Verbindung zwischen der Darmflora und unseren Emotionen auch in der persönlichen Wahrnehmung ist. Es muss also eine funktionelle Verbindung geben, über die Darm und Gehirn miteinander kommunizieren können, obwohl die beiden Systeme im Körper anatomisch klar getrennt und weit voneinander entfernt sind. Man spricht deshalb in diesem Zusammenhang auch von der Darm-Hirn-Achse.


Die grundlegendsten Erkenntnisse darüber, wie bedeutsam diese Verbindung ist, verdankt die Wissenschaft sogenannten Bubble-Mäusen. Sie heißen so, weil sie in einer sterilen Blase, also in einer völlig keimfreien Umgebung gezüchtet werden und dadurch keinerlei vorgeprägtes Darmmikrobiom haben. Diese Mäuse unterscheiden sich in ihren Verhaltensmustern auffällig von „normalen“ (sogenannten Wildtyp-) Mäusen: Ihre kognitiven Fähigkeiten sind deutlich herabgesetzt, sie besitzen nur eine geringe Gefahrenwahrnehmung und kaum natürliche Angstreaktionen. Sie zeigen wenig Neugier auf Artgenossen oder Bereitschaft zur sozialen Interaktion, haben Schwierigkeiten, Neues zu lernen und neigen zu Apathie und depressivem Verhalten. Verpflanzt man ihnen aber das Mikrobiom von Wildtyp-Mäusen, normalisiert sich das Verhalten der Bubble-Mäuse ziemlich rasch. Sie zeigen dann wieder ein arttypisches Sozialverhalten und normale Reaktionen auf Stress, Gefahren und neue Reize. Es scheint also, als würde durch das Einbringen einer gesunden Darmflora auch die normale Persönlichkeit der Mäuse wiederhergestellt.


Etwas noch Spannenderes passiert, wenn man den keimfreien Nagern das Mikrobiom von menschlichen Versuchspersonen transplantiert, die an verschiedenen Funktionsstörungen des Gehirns leiden. Erhalten sie das Mikrobiom von Menschen mit Angststörungen, werden auch die Mäuse übermäßig ängstlich und schreckhaft und zeigen angsttypisches Vermeidungsverhalten. Bekommen sie einen Bakteriencocktail von Patienten mit Autismusspektrum-Störungen, entwickeln sie wiederholende Verhaltensmuster und beginnen sich sozial zu isolieren. Das Mikrobiom von Menschen mit Depressionen lässt die Bubble-Mäuse antriebslos und in sich gekehrt werden. Zusätzlich entwickeln sie signifikante Störungen im Serotonin-Stoffwechsel, die für das Krankheitsbild Depression charakteristisch sind.


In all diesen Versuchen ist offenbar das transplantierte Mikrobiom maßgeblich dafür verantwortlich, wie sich das Wesen der Mäuse verändert. Die Merkmale und Symptome der untersuchten Krankheitsbilder scheinen also nicht allein im Gehirn zu entstehen, sondern auch im Darm.

Bubble Mäuse in der Mikrobiom-Forschung

Bubble-Mäuse (Bild: Canva)


Nun mag man argumentieren, dass Menschen keine Mäuse sind, und dass die Beobachtungen in Bubble-Mäusen daher nicht zwingend auch auf uns umgelegt werden können. Bis zu einem gewissen Grad ist das auch richtig, denn es ist schlichtweg unmöglich, „Bubble-Menschen“ zu züchten, die in einer gänzlich sterilen Umgebung aufwachsen und überhaupt kein Mikrobiom haben. Das menschliche Mikrobiom entsteht ab dem Zeitpunkt der Geburt und wird im Laufe des Lebens durch sämtliche Einflüsse, denen der Organismus ausgesetzt ist, verfeinert und geprägt. Es gibt also im Menschen keine „mikrobielle Nulllinie“, an der man forschen könnte.


Doch auch wir besitzen eine Darm-Hirn-Achse, und diese beeinflusst unsere Wahrnehmung der Welt und unser Verhalten auf ähnlich markante Weise wie die der Bubble-Mäuse. Ein mittlerweile überwältigend hoher Berg an wissenschaftlicher Evidenz beweist, dass verschiedene psychische und neurologische Krankheiten mit Veränderungen im Darmmikrobiom einhergehen – darunter ADHS, Depressionen, Angst- und posttraumatische Belastungsstörungen, Autismus, Schizophrenie und Parkinson. Medizinische Interventionen, bei denen das Mikrobiom moduliert wird (beispielsweise der sogenannte fäkale Mikrobiota-Transfer oder kurz FMT), zeigen beeindruckende erste Erfolge bei der Behandlung dieser Krankheiten. Darm und Gehirn sind also auch im Menschen funktionell untrennbar verbunden. Veränderungen in dem einen System schlagen sich zwangsläufig auch auf das andere nieder.


Doch wie in aller Welt können Darmbakterien das Gehirn so sehr beeinflussen? Wie kann es sein, dass sie sich nicht nur auf unsere körperliche Gesundheit auswirken können, sondern offensichtlich auch auf unsere Psyche, Emotionen und Verhaltensmuster?


Die Erklärung scheint darin zu liegen, dass das Mikrobiom und das Gehirn die gleiche Sprache sprechen. Diese Sprache besteht in erster Linie aus einer Vielzahl an Botenstoffen, Neurotransmittern und Hormonen, die sowohl vom Gehirn als auch von den Mikroorganismen im Darm produziert werden und unmittelbar auf unsere Gemütsverfassung wirken. Serotonin steht zum Beispiel mit der Regulation von Stimmung, Schlaf und Appetit in Verbindung, Dopamin beeinflusst das Belohnungsgefühl, die Motivation und die Leistungsfähigkeit, und Gamma-Aminobuttersäure (GABA) fungiert als wichtiger Mediator unseres individuellen Angst- und Stressempfindens.


Ein weiterer wesentlicher Kommunikationskanal zwischen Darm und Gehirn ist der sogenannte Vagusnerv. Der zehnte unserer zwölf Hirnnerven entspringt aus der Medulla oblongata des Hirnstamms und durchzieht von dort aus fast den ganzen Körper. Er innerviert über ein fein verästeltes Nervengeflecht alle Eingeweide, vor allem den Magen-Darm-Trakt. Das Interessante daran: Etwa 80% der Kommunikation über den Vagusnerv geschieht afferent bzw. „bottom-up“, als vom Darm zum Gehirn. Das ist bemerkenswert, denn immerhin sind wir doch eigentlich der Meinung, das Gehirn sei unser zentrales Kontrollorgan, das über die Nervenbahnen den Rest des Körpers steuert und die Organe instruiert, was sie zu tun haben. Stattdessen scheint aber in Bezug auf den Darm der Großteil der Informationen in die andere Richtung zu fließen – womöglich ist es das, was wir manchmal als unser „Bauchgefühl“ empfinden.


Manchmal wird der Tonfall auch etwas rauer, wenn der Darm mit dem Gehirn spricht – nämlich dann, wenn das Mikrobiom aus dem Gleichgewicht gerät und die Darmschleimhaut angreift. Dadurch wird die normalerweise robuste Barriere durchlässiger für aggressive Varianten von Darmbakterien und deren Stoffwechselprodukte, die dann über die Blutbahn zum Gehirn gelangen und dort Entzündungsprozesse auslösen können. Diese erhöhte Durchlässigkeit der Darmwand ist im Zusammenhang mit der Glutenunverträglichkeit Zöliakie bestens bekannt, wurde aber auch schon bei neurologischen Krankheiten wie Multipler Sklerose (MS), Alzheimer und Parkinson nachgewiesen.


Über diese chemischen und neuronalen Sprachmuster kommuniziert der Darm permanent mit dem Gehirn. Die Art und Zusammensetzung der Darmbakterien und der Stoffe, die sie produzieren, hat einen direkten und prägenden Einfluss auf die Hirnfunktionen, die mit Stimmung, Gefühlsleben und Verhalten in Verbindung stehen. Viele Wissenschaftler glauben sogar, dass die Mikroorganismen, die ein Neugeborenes bei der Geburt und über die Muttermilch aufnimmt, eine Schlüsselrolle bei der neurologischen Entwicklung des Babys spielen – was wiederum langfristige Auswirkungen auf dessen kognitive Fähigkeiten, geistige Entwicklung und Verhalten hat. Schenkt man dieser Theorie Glauben, wären es die Mikroorganismen, die unserem Gehirn und Nervensystem gewissermaßen die „ersten Worte“ beibringen. Und dieser Lernprozess dauert das ganze Leben lang an.


Mit jeder Veränderung des Mikrobioms verändern sich auch die Signalmuster, die zum Gehirn geschickt werden - und damit auch die Gehirnfunktion selbst. Im Normalfall ist das System robust genug, um natürlichen Schwankungen zu widerstehen und von selbst wieder in ein gesundes Gleichgewicht zurückzufinden. Manchmal gerät diese Balance aber aus den Fugen - und das mitunter sogar dauerhaft. Verschiebungen in der Zusammensetzung und Vielfalt der Darmbakterien, sogenannte Dysbiosen, stehen nachgewiesenermaßen mit vielen neuropsychiatrischen Krankheitsbildern in Verbindung.


Die Darm-Hirn-Achse

Die Darm-Hirn-Achse (Bild: Canva)



Wie weit reicht also der Einfluss des Mikrobioms auf unsere Psyche? Könnte es unter Umständen nicht nur in der Lage sein, einzelne unserer Stimmungen und Verhaltensweisen zu beeinflussen, sondern sogar unser ganzes Wesen? Ist unsere Persönlichkeit womöglich nicht nur das Ergebnis der Prozesse in unserem Gehirn, sondern die neuronale Übersetzung der Sprache unseres Mikrobioms?


Auf viele dieser Fragen hat die Wissenschaft heute noch keine Antwort. Fest steht aber: Was auch immer wir denken, fühlen oder tun, die Mikroorganismen in unserem Darm reden dabei mit – ob wir nun wollen oder nicht. Was jeder Mensch als „Ich“ empfindet, ist eigentlich „Wir“, und dieses Wir ist ein höchst komplexes Zusammenspiel aus unseren eigenen Bewusstseinsprozessen und den Signalen der Milliarden von kleinen Lebewesen, die in uns leben.


Mikroorganismen existieren schon weit länger auf diesem Planeten als die Spezies Mensch. Sie sind im Lauf der Jahrmilliarden Profis darin geworden, Wege, Strategien und Umgebungen zu finden, die ihnen geeignete Lebensbedingungen bieten. Womöglich ist auch die symbiotische Verbindung zwischen Menschen und Mikroorganismen eine solche Strategie - ein extended phenotype, der einzig darauf abzielt, den Fortbestand der Mikroorganismen zu sichern, indem sie das Verhalten ihrer menschlichen Wirte beeinflussen. Die Fähigkeit, Parameter wie Appetit, Nahrungspräferenzen, Stimmung, Stressresilienz oder Sozialverhalten zu steuern, könnte in diesem Zusammenhang eine ausgeklügelte evolutive Strategie sein, mit denen sie ihre Chance auf Überleben, Vermehrung und Verbreitung erhöhen. Das mag eine gewagte Theorie sein. Gänzlich auszuschließen ist sie vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über die Darm-Hirn-Achse aber nicht.


Könnten wir also am Ende den Mikroorganismen in unserem Körper ebenso unterworfen sein wie die arglose Maus dem Toxoplasma-Parasiten?

Vermutlich nicht. Zumindest nicht ausschließlich. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Kommunikationsmuster des Mikrobioms entscheidend für unserer psychischen Gesundheit sind, doch im Gegensatz zu opportunistischen Parasiten setzen sie unsere autonome Entscheidungsfreiheit nicht völlig außer Kraft und nehmen uns auch nicht gänzlich unseren freien Willen.

Das liegt vor allem daran, dass die Mikrobiom-Hirn-Achse nicht nur in eine Richtung läuft, sondern in beide. Das Mikrobiom ist zwar ähnlich einzigartig wie der Fingerabdruck eines Menschen, aber gleichzeitig kein statisches und unveränderliches System. Es reagiert auf alles, was auf unseren Körper einwirkt: Stress, soziale Interaktionen, Umweltfaktoren und natürlich unsere Ernährungsgewohnheiten. Durch bewusste Entscheidungen über unsere Lebensweise in diesen Bereichen können wir also maßgeblich beeinflussen, wie und worüber das unser Darm mit dem Gehirn kommuniziert.


Die Forschung rund um das Mikrobiom und seinen fundamentalen Einfluss auf unser Gehirn und unsere Psyche wird die nächsten Jahrzehnte mit Sicherheit entscheidend mitprägen. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass wir in Zukunft die Möglichkeit haben werden, Störungen und Krankheiten des Gehirns besser behandeln oder sogar heilen zu können, indem wir dort ansetzen, wo sich Billionen kleiner Schalthebel befinden, die zwischen Gesundheit und Krankheit entscheiden können: bei den Mikrooganismen in unserem Darm.



Quellen:


McAuliffe, K. This Is Your Brain On Parasites: How Tiny Creatures Manipulate Our Behavior and Shape Society (2017), Mariner Books, ISBN: 0544947258


Cryan JF, O'Mahony SM. The microbiome-gut-brain axis: from bowel to behavior. Neurogastroenterol Motil. 2011 Mar;23(3):187-92. doi: 10.1111/j.1365-2982.2010.01664.x. PMID: 21303428.


Johnson KV, Foster KR. Why does the microbiome affect behaviour? Nat Rev Microbiol. 2018 Oct;16(10):647-655. doi: 10.1038/s41579-018-0014-3. PMID: 29691482.


Dawkins, R. The Extended Phenotype: The Long Reach of the Gene (2016), Oxford University Press, ISBN: 0198788916


Luczynski P, at al. Growing up in a Bubble: Using Germ-Free Animals to Assess the Influence of the Gut Microbiota on Brain and Behavior. Int J Neuropsychopharmacol. 2016 Aug 12;19(8):pyw020. doi: 10.1093/ijnp/pyw020. PMID: 26912607; PMCID: PMC5006193.

Comments

Rated 0 out of 5 stars.
No ratings yet

Add a rating
bottom of page