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Der glücklichste Zufall der Medizingeschichte

  • katrinflatscher
  • 1. Sept. 2024
  • 10 Min. Lesezeit
Alexander Fleming (KI-Bild erstellt mit Canva Magic Media)

Alexander Fleming (AI-Bild erstellt mit Canva Magic Media)


Anfang September 1908. Die 26-jährige Agnes Meier nutzt den sonnigen Nachmittag, um den Garten des Familienbauernhofs auf den Herbst vorzubereiten. Sie ist dabei, den Grünschnitt der Berberitzenhecke, die ihr Mann am Vortag gestutzt hat, zusammenzutragen und zu zerkleinern. Ein dünner Ast sträubt sich, als sie versucht, ihn auseinanderzubrechen. Als sie ihn stärker biegt, birst er plötzlich mit einem lauten Knacken und die Holzsplitter bohren sich in Agnes' Hand.

Reflexartig lässt sie den Ast fallen und betrachtet die schmerzende Stelle. Bis auf ein paar gerötete Striemen und kleinere Abschürfungen ist nicht viel zu sehen. Nur am Ringfinger hat sich ein einzelner Span tief unter die Haut geschoben, und als Agnes ihn herauszieht, tritt ein kleiner Blutstropfen aus der Wunde. Schnell steckt sie sich den Finger in den Mund, um zu verhindern, dass das Blut auf ihre Bluse tropft. Blutflecken sind nur schwer wieder auszuwaschen, weiß sie aus Erfahrung. Und tatsächlich: Schon ist nur mehr ein kleiner roter Punkt zu sehen und nichts mehr von dem kurzen Schmerz zu spüren. Als Agnes später ein paar Rüben fürs Abendessen erntet, denkt sie schon nicht mehr an den kleinen unachtsamen Zwischenfall.


Einige Tage später wacht Agnes früher als sonst auf. Ihr Finger pocht und das oberste Gelenk ist gerötet und geschwollen. Sie hält die Hand ins kühlende Wasser des Brunnens vorm Haus und wickelt anschließend ein Streifchen Stoff um den schmerzenden Finger. So wird er sie bei den anstehenden Haushaltstätigkeiten hoffentlich nicht allzu sehr stören. Doch als sie die Bandage abends abnimmt, ist der Stoff durchtränkt von Wundflüssigkeit, die aus der Verletzung austritt. Der Arzt, den sie am nächsten Tag aufsucht, reinigt den FInger mit Alkohol und verordnet ihr Kräuterauflagen und Kamillensud. Doch auch die wirken nicht.


Nach zwei weiteren Tagen bekommt Agnes hohes Fieber. Die Wunde am Finger nässt und eitert, die Haut rundherum hat sich dunkelrot verfärbt. Der Schmerz ist so intensiv, dass sie die Hand kaum noch bewegen kann, und strahlt über den Arm bis hinauf zur Schulter aus. Bald bekommt Agnes kaum noch Luft und ist durch das Fieber und die Schmerzen so geschwächt, dass sie das Bett nicht mehr verlassen kann.


Zwei Tage später stirbt Agnes. Wundbrand, konstatiert der Arzt, der den Totenschein ausstellt. Der Kratzer am Finger muss sich entzündet haben und die Keime haben dann die inneren Organe in Mitleidenschaft gezogen. Keine Chance.



Zu Beginn des 20. Jahrhunderts teilen tausende Menschen Agnes' trauriges Schicksal. Bakterielle Infektionen wie Tuberkulose, Scharlach und Diphterie fordern zehntausende Menschenleben. Kriegsverwundete sterben unter qualvollen Bedingungen an entzündeten Verletzungen. Aber auch kleine, scheinbar harmlose Verletzungen wie Schnitte oder Schürfwunden führen oft zu lebensgefährlichen Infektionen und nicht selten zum Tod. Das Leben der Patienten kann oft nur durch drastische Maßnahmen gerettet werden: durch ein sofortiges Ausbrennen der Wunde, das großflächige Herausschneiden der befallenen Gewebeschichten oder gar durch Amputation des betroffenen Körperteils.


In der heutigen Zeit sind solche Zustände unvorstellbar. Wenn wir uns einen bakteriellen Infekt einfangen oder eine offene Verletzung zuziehen, die droht, sich zu entzünden, verschreibt uns der Arzt ein Antibiotikum, das den Krankheitserregern in wenigen Tagen den Garaus macht. Sind diese härtnäckiger, dauert es vielleicht etwas länger, um die Infektion zu behandeln – aber wir können sie behandeln. Zu verdanken haben wir das vor allem einem schottischen Arzt und Forscher. Er entdeckte vor knapp 100 Jahren das erste wirksame Antibiotikum. Wir kennen es heute unter dem Namen Penicillin.


Penicillin-Standard im Nobel-Museum, Stockholm

Penicillin-Standard im Nobel-Museum, Stockholm (Rajitha Ranasinghe, CC BY 2.0 via Flickr)


Alexander Fleming wird 1881 auf einer Farm in Ayrshire, einem abgelegenen, ländlichen Teil Schottlands, geboren. Sein Vater stirbt früh, und mit 13 zieht Alexander zu seinem älteren Bruder Thomas nach London, der dort als Arzt arbeitet. Thomas ist es auch, der beim jungen Alexander das Interesse an Medizin und Krankheitskunde weckt und ihn dazu ermutigt, es ihm bei der Berufswahl gleichzutun. Zunächst droht das aber daran zu scheitern, dass sich die Familie Fleming nicht leisten kann, einem weiteren Sohn das teure Medizinstudium zu finanzieren.


Mit 21 kommt Alexander jedoch durch ein zufälliges Erbe zu etwas Geld und schreibt sich daraufhin im Herbst 1903 an der St. Mary's Hospital Medical School ein, die heute Teil des Imperial College London ist. Seinen Abschluss macht er 1908 mit Auszeichnung und arbeitet anschießend als Assistent des renommierten britischen Immunologen und Impfstoffforschers Sir Almroth Wright, der kurz vor der Jahrhundertwende den ersten Impfstoff gegen Typhus entwickelte und als Pionier in der Erforschung der menschlichen Immunabwehr gegen Infektionskrankheiten gilt.


Zu Beginn des Ersten Weltkriegs wird Fleming in das Royal Army Medical Corps einberufen und vorwiegend in Militärkrankenhäusern und Feldlazaretten zur Behandlung von Verwundeten eingesetzt. Dort forscht er auch an Wegen zur Bekämpfung von Infektionen und an Alternativen zu den damals gebräuchlichen Antiseptika wie Alkohol, Jod und Wasserstoffperoxid. Diese sind wegen ihrer keimtötenden Wirkung zur damaligen Zeit die Mittel der Wahl, um Wunden zu desinifzieren und Infektionen zu verhindern. Allerdings können sie nur äußerlich und oberflächlich angewendet werden. Infektiöse Erreger, die bereits tiefer ins Gewebe eingedrungen sind, erreicht man damit nicht.


Geprägt durch die Erlebnisse und Erkenntnisse an der Front kehrt Fleming nach Kriegsende nach London zurück und übernimmt eine Professur am St. Marys Hospital. Er widmet sich fortan ganz der bakteriologischen Forschung, besonders der Erforschung des Eiterbakteriums Staphylococcus aureus.


Seine erste große Entdeckung macht er 1921 – und die ist zum Teil seiner notorischen Unordnung geschuldet, zum Teil aber auch etwas, das in dieser Geschichte noch öfter eine Rolle spielen wird: einem glücklichen Zufall.


Fleming laboriert an einer hartnäckigen Erkältung, während er mit seinen Bakterienkulturen arbeitet. Dabei geraten wohl beim Niesen einige Tropfen seines Nasensekrets in eine der Staphylococcus-Kulturen – und stoppen überraschendeweise das Bakterienwachstum. Bestärkt von der unerwarteten Beobachtung probiert Fleming nun sämtliche Körperflüssigkeiten an den Bakterien aus, die er finden kann: Rotz, Spucke, Sperma und sogar Tränen. Vor allem letztere scheinen vielversprechende Resultate zu liefern. Deshalb muss die ganze Laborbelegschaft in den folgenden Wochen - im Dienste der Wissenschaft und mit Hilfe von Zwiebeln und Zitronen – allmorgendlich in Probenröhrchen weinen, um genügend Testmaterial zu produzieren. Die Campus-Zeitung des St. Mary’s druckt damals sogar eine satirische Karikatur ab, auf der Alexander Fleming kleine Kinder schlägt, um an ihre Tränen zu kommen.


Die Substanz, die für den Effekt verantwortlich ist, beschreibt Fleming schließlich unter dem Namen Lysozym. Wir wissen heute, dass das antimikrobielle Enzym Teil unseres angeborenen Immunsystems ist und dazu dient, uns gegen Bakterien zu verteidigen, die zum Beispiel über unsere Mundschleimhaut oder die Augen in den Körper einzudringen versuchen.


Den großen Durchbruch für die Staphylococcus-Bekämpfung bedeutet Lysozym allerdings nicht - einerseits, weil Lysozym ähnlich wie die Antiseptika nicht stark genug wirkt, um systemische Bakterieninfektionen zu bekämpfen, zum Teil aber auch, weil Fleming zwar ein exzellenter Wissenschaftler, aber ein lausiger Wissenschaftskommunikator ist. Er publiziert die Erkenntnisse über Lysozym zwar im einem angesehenen Fachmagazin ("On a Remarkable Bacteriolytic Element Found in Tissues and Secretions"), darüber hinaus gelingt es ihm aber nicht, seine Fachkollegen vom Potenzial seiner Entdeckung zu überzeugen.


Nach weiteren Jahren in Forschung und Lehre beschließt Fleming im August 1928 schließlich, die Arbeit für einige Wochen ruhen zu lassen und in seinem Sommerhaus im Örtchen Barton Mills in der Grafschaft Suffolk Urlaub zu machen. Bevor er dorthin abreist, füttert er die Bakterienkulturen noch mit genügend Nährmedium, um die Arbeit gleich nach seiner Rückkehr fortsetzen zu können, und verfrachtet sie dann zusammen mit Reagenzfläschchen, Pipetten und Notizblöcken in eine Ecke des Raums neben dem Fenster.

 

Als er aus dem Urlaub zurückkehrt, erwartet ihn allerdings eine unangenehme Überraschung: Auf den Kulturschalen haben sich grünlich-weiße, pelzige Schimmelnester breitgemacht (was, wie man später herausfand, wohl auch der schlechten baulichen Planung der Labore am St. Mary’s geschuldet war, wodurch Sporen aus dem direkt daruntergelegenen Labor für Mykologie über das geöffnete Fenster in Flemings Labor eindringen konnten). Im Normalfall sind solche kontaminierten Kulturen unbrauchbar und werden schnellstens entsorgt, um nicht auf andere Proben überzugreifen. Fleming tut das aber nicht.

 

„Das ist ja lustig!“, murmelt er, als einer eine der Petrischalen hochhebt und im Gegenlicht des Fensters betrachtet. Rund um die Schimmelherde haben sich die Bakterien zurückgezogen, ähnlich abrückenden Soldaten, die einer gegnerischen Übermacht weichen. Fasziniert von der Beobachtung entnimmt Fleming eine Probe des Schimmels und züchtet sie in einem separaten Gefäß an. Diesen Schimmelsaft, wie er ihn nennt, mischt er dem Nährmedium für frische Kulturschalen bei. Und siehe da: Die Staphylococcus-Bakterien können darauf nicht wachsen und sterben schließlich ab. Fleming schlussfolgert, dass der Schimmelpilz eine Substanz enthalten müsse, die in der Lage ist, Bakterien wirksam abzutöten. Er identifiziert ihn schließlich als Penicillium notatum, eine Unterart aus der Familie der Pinselschimmel. Den enthaltenen Wirkstoff nennt er Penicillin.

 

Alexander Fleming entdeckt den Schimmelpilz Penicillium notatum auf Bakterienkulturen

Alexander Fleming (See page for author, CC BY 4.0) & Penicillium notatum (Crulina 98, CC BY-SA 3.0, beide via Wikimedia Commons)


Die meisten Geschichten über Flemings zukunftsweisende Entdeckung enden an dieser Stelle. Ein glücklicher Zufall führt zu einer der wichtigsten Entdeckungen der Medizingeschichte. Happy End, Punkt. Tatsächlich findet die Geschichte des ersten Antibiotikums an diesem Punkt aber noch nicht einmal einen richtigen Anfang. Im Gegenteil: Der neuartige Wirkstoff gerät, genau wie das Lysozym, erst einmal in Vergessenheit, und es soll zehn Jahre dauern, bis Penicillin wieder in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Interesses rückt.

 

Der australische Pathologe Howard Florey und der deutsch-britische Biochemiker Ernst Boris Chain, die zusammen an der Universität Oxford forschen, werden Ende der 1930er Jahre auf Alexander Flemings Penicillin-Publikation aufmerksam. Die beiden Wissenschaftler haben ein groß angelegtes Projekt gestartet, das zum Ziel hat, systematisch alle bekannten Wirkstoffe mit bakterienabtötender Wirkung zu untersuchen. Ein weiterer Krieg hat gerade begonnen, und alle beteiligten Seiten unternehmen große Anstrengungen, nicht nur auf militärischer Ebene, sondern auch durch medizinische Fortschritte die Überhand zu gewinnen. Nach der verheerenden Zahl an Todesfällen im ersten Weltkrieg ist die Bereitschaft, in die Entwicklung wirksamer Medikamente gegen Wundinfektionen zu investieren, enorm hoch. Diese würden schließlich nicht nur die Verlustraten innerhalb der Truppen verringern, sondern auch die Moral der Soldaten stärken.

 

Florey und Chain schaffen es, Flemings „Schimmelsaft“ nachzukochen und daraus eine ausreichende Menge Penicillin zu extrahieren, um damit eine Gruppe von bakteriell infizierten Labormäusen erfolgreich zu behandeln. Bestärkt durch die Beobachtung, dass Penicillin auch im lebenden Organismus wirkt und darüber hinaus nicht toxisch ist, machen sie sich auf die Suche nach einem menschlichen Patienten - und finden ihn im Londoner Polizisten Albert Alexander.


Dieser hat nach einem vermeintlich harmlosen Kratzer durch einen Rosendorn eine schwere Sepsis entwickelt, die große Teile seines Kopfs befallen und ihn bereits ein Auge gekostet hat. Im Spätwinter 1941 liegt Alexander im Sterben, und die Behandlung mit dem neuartigen, aber noch experimentellen Penicillin ist die letzte Hoffnung, sein Leben vielleicht doch noch zu retten. Er bekommt die gesamte Dosis des Antibiotikums, die Florey und Chain aus dem Schimmelsaft isoliert haben - 160 Milligramm aufgereinigtes Penicillin.


Die Wirkung stellt sich sofort ein: Binnen 24 Stunden geht es dem Patienten deutlich besser, sein Fieber sinkt und er kommt wieder zu Kräften. Doch unglücklicherweise ist der Genesungseffekt nicht von Dauer. Nach einigen Tagen flammen die Infektionszeichen wieder auf und die Bakterien vermehren sich erneut. Die einmalige Penicillin-Dosis scheint nicht ausreichend zu sein, um die Bakterien vollständig abzutöten. Da aber nicht mehr genügend Antibiotikum für eine weitere Behandlung vorhanden ist, stirbt Albert Alexander wenig später an den schweren inneren Entzündungen.

 

Florey und Chain hinterlässt er jedoch zwei wichtige Erkenntnisse. Erstens: Penicillin wirkt tatsächlich als systemisches Medikament und erreicht bakterielle Infektionen auch innerhalb des Körpers. Zweitens: Die Mengen, die sie bisher geschafft haben herzustellen, reichen nicht aus für die vollständige Behandlung eines Menschen, geschweige denn vieler. Den Forschern ist klar: Ohne die Mittel moderner Massenproduktion wird es nicht möglich sein, Penicillin als Medikament zu nutzen.


Penicillin-Massenproduktion in den USA zwischen 1943 und 1944

Penicillin-Massenproduktion (See page for author, CC BY 4.0 via Wikimedia Commons und Picryl, Public Domain)


Großbritannien, das angesichts des rasch voranschreitenden Zweiten Weltkriegs massiv auf die Rüstungsindustrie umgestellt hat, hat nicht die industriellen Kapazitäten, um Medikamente im großen Maßstab zu produzieren. Aus Sorge, das Land könne von der deutschen Wehrmacht eingenommen werden und das wertvolle Penicillin würde dann womöglich in die Hände des Feindes fallen, wird die Produktion daher kurzerhand in die USA verlagert. Das US-Landwirtschaftsministerium hat dort in Peoria, Illinois, industrielle Großanlagen zur Fermentation von medizinischen Wirkstoffen eingerichtet, die wie geschaffen für die Antibiotika-Massenproduktion sind. Unter der Leitung von Howard Florey wird dort außerdem ein Team zusammengestellt, das sich auf die Suche nach weiteren und vor allem ergiebigeren Schimmelarten machen soll, mit denen die Produktion noch rascher vorangetrieben werden kann.


Eine maßgebliche Rolle bei dieser Suche spielt die junge amerikanische Laborassistentin Mary Hunt. Die Tochter osteuropäischer Einwanderer, die nach ihrem Bakteriologiestudium als Laborassistentin im Northern Regional Research Laboratory in Peoria arbeitet, hat nämlich eine pragmatischere Idee, als nur die einschlägige Literatur und Laborarchive nach potenziellen Wirkstoffproduzenten zu durchforsten. Sie klappert die örtlichen Lebensmittelläden nach verdorbenen Produkten ab, um auf diese Weise geeignete Schimmelkandidaten zu finden - was ihr den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Mouldy Mary“ – „Schimmelmarie“ – einbringt.


Und auch ihr kommt der glückliche Zufall zur Hilfe. Auf einer überreifen Zuckermelone, die ein Obsthändler bereits aussortiert hat und wegwerfen will, findet sie einen rasch wuchernden, gelb-orangen Schimmelpilz. Im Labor identifiziert sie ihn als Penicillium chrysogenum, einen Verwandten von Penicillium notatum. Und er erweist sich als Volltreffer, denn er produziert mehr als 200-mal so viel Wirkstoff wie der Pilz auf Alexander Flemings kontaminierter Petrischale.


Der Rest ist Medizingeschichte. Später wird es sogar heißen, Penicillin sei letztlich kriegsentscheidend gewesen, denn mit der mächtigen medizinischen Waffe in der Hinterhand war es möglich, den Alliierten einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen und ihre militärische Stärke aufrechtzuerhalten.

1945 erhalten Alexander Fleming, Howard Florey und Ernst Chain den Medizin-Nobelpreis „für die Entdeckung des Penizillins und seiner Heilwirkung bei verschiedenen Infektionskrankheiten“ - und die Welt tritt ein ins Zeitalter der Antibiotika.


Alexander Fleming, Howard Florey und Ernst Chain erhalten den Nobelpreis für Medizin im Jahr 1945

Alexander Fleming (lizensiert unter CC BY-NC-SA 4.0), Howard Florey & Ernst Chain (beide Public Domain, PDM 1.0)



In einer meiner Lehrveranstaltungen erzähle ich meinen Studenten gerne die Geschichte von Flemings Penicillin-Entdeckung, um ihnen das Prinzip der Serendipität zu erklären. Das hübsch klingende Wort bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas, das man eigentlich gar nicht gesucht hat, das sich dann aber als überraschende und geniale Entdeckung erweist.


Solche glücklichen Zufälle hat es in der Wissenschaft tatsächlich schon öfter gegeben. Wilhelm Konrad Röntgen soll 1895 auf diese Weise die nach ihm benannten Strahlen entdeckt haben, als er in einem abgedunkelten Raum mit Kathodenstrahlern experimentierte und per Zufall auch eine fluoreszierende Platte zum Leuchten brachte. Albert Hofmann entdeckte 1943 im ungeplanten Selbstversuch die halluzinogenen Effekte von Lysergsäurediethylamid (LSD), obwohl er eigentlich dessen kreislaufstimulierende Wirkung untersuchen wollte. Und auch das weltbekannte Medikament Viagra, das in den 1990er Jahren ursprünglich zur Behandlung von Herzrhythmusstörungen entwickelt worden war, erwies sich schließlich durch eine Zufallsbeobachtung als eines der wirkungsvollsten Mittel gegen Erektionsprobleme.


All diese Entdeckungen jedoch nur dem puren Zufall zuzuschreiben, wird den Wissenschaftlern dahinter nicht gerecht. Alexander Fleming wurde von seinen Kollegen manchmal als kauzig, zerstreut und gar chaotisch beschrieben. Heutzutage würde er wahrscheinlich durch jede GLP (Good Laboratory Practice)-Prüfung fallen und dürfte womöglich in gar keinem regulierten Labor arbeiten. Doch Fleming besaß gleichzeitig auch die Eigenschaften, die viele bedeutende Wissenschaftler auszeichnen: einen unermüdlichen Forschergeist, kreativen Einfallsreichtum und eine neugierige Offenheit für Möglichkeiten abseits des Erwarteten.


Die wohl bedeutsamste Entdeckung der Medizin haben wir also nicht dem puren Zufall zu verdanken, sondern der Tatsache, dass Fleming neugierig genug war, diesem Zufall Beachtung zu schenken. Hätte er ihn als missglücktes Experiment abgetan und die verschimmelte Petrischale einfach weggeworfen, wären wir vielleicht noch heute in der Situation, dass uns jeder unachtsame Kratzer potenziell in Lebensgefahr bringt. Denn selbst der glücklichste Zufall braucht stets eine Person, die das Potenzial dahinter sieht. Oder, wie Fleming selbst es später einmal ausdrücken sollte: „Der unvorbereitete Geist ist nicht in der Lage, die ausgestreckte Hand guter Gelegenheiten zu erkennen.“




Quellen:

Chhabra S, et al. The Penicillin Pioneer: Alexander Fleming's Journey to a Medical Breakthrough. Cureus. 2024;16(7):e65179. Published 2024 Jul 23.

Tan SY, Tatsumura Y. Alexander Fleming (1881-1955): Discoverer of penicillin. Singapore Med J. 2015;56(7):366-367.

Fleming A. On a remarkable bacteriolytic element found in tissues and secretions. Proc. R. Soc. Lond. B. 1922;93:306–317.

Science History Institute, "The Forgotten Mother of Penicillin", Podcast "The Disappearing Spoon", 10.10.2023

Barrett MP. The legacy of penicillin's first patient. Pharmacol Res. 2023;192:106772.

Adedeji WA. The treasure called antibiotics. Ann Ib Postgrad Med. 2016;14(2):56-57.

Barreiro C et al. Penicillium chrysogenum: Beyond the penicillin. Adv Appl Microbiol. 2024;127:143-221.


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